Sonntag, 17. Juli 2016

Sonntagsstory: Der Koch war immer der Gärtner


Wer schon öfters auf diesem Blog zu Besuch war, weiß, dass Gourmandise hier eine genüssliche Rolle spielt und ich gerne über Kulinarisches reflektiere. Im kalendarischen Hochsommer, in dem schon die ersten Kürbisse auf dem Markt prangen, gibt es mal eine leichte Kost, einen winzigen Happen eines Gourmet-Thrillers, der in meiner Schreibtischschublade ein vergessenes Dasein führte. Und in dem der anzügliche Kürbis eine nicht unbedeutende Rolle spielt.

Heute kommt die Wahrheit ans Licht: Viel Spaß mit Henry, dem Sternekoch!



Mord à la carte 

oder

Der Koch war immer der Gärtner


Henry, ein zartes, anhängliches Kind, wird von der Mutter allein aufgezogen. Seit er einmal unbeaufsichtigt aus dem Hochbett fiel, wächst er nur noch ganz langsam. Mutter Elsa hat einen Hang zur Straße und vergisst schon mal das Kochen. Na ja, relativ oft, eigentlich kocht sie fast gar nicht. Henry hat ständig Kohldampf. Er behilft sich. Schon mit 5 Jahren bereitet er sich kleine Suppen aus einer Kohlrübe und einer Stange Lauch, die er den Marktfrauen abschwatzt, die ihn niedlich finden. Manchmal gibt es auch ein Stück Speck oder ein Mettwürstchen vom Metzger nebenan, der es unverantwortlich findet, dass Henry so spillerig ist. An einem Mann muss was dran sein, sagt er. Von ihm lernt Henry auch ein paar Tricks, wie er seine Suppen aufwerten kann. 

Wenn Mutter Elsa nach Hause kommt, trifft sie ihn oft in der Küche an. Da dies meist in der Nacht passiert, wenn sie schon einen über den Durst getrunken hat, kommt es nicht selten vor, dass sie sich vor Lachen über den Knirps ausschüttelt, der am Herd steht und ihr zu später Stunde einen Teller Suppe aufwärmt. 

Eines Abends ist sie besonders übel gelaunt, einer ihrer Freier hat sie vermöbelt, ein blaues Auge kühlt sie gerade mit einem Beutel Eis. Als Henry ihr die Suppe vor die Nase stellt und auf ein Lob wartet, kostet sie kurz, spuckt in den Teller aus und stimmt ein Hohngelächter an. "Das soll eine Suppe sein! Spülwasser ist das!" Henry sieht fassungslos zu, wie sie die Suppe in den Ausguss kippt. Später unter der Bettdecke ballt er die kleinen Fäuste. 

Am nächsten Tag fragt er den Metzger, wie man eigentlich Schweine beim Schlachten ruhig stellt. Der Metzger sagt: "Gib ihnen ordentlich Schlafmittel, dann gehen sie von allein zur Schlachtbank." Er hält sich den Bauch vor Lachen, als er sieht, dass der Kleine das ganz ernst nimmt.


Wo soll Henry Schlafmittel hernehmen? 


Als Kind bekäme er in jeder Apotheke eine Abfuhr. Aber da sind ja noch die Marktfrauen, die einen Narren an seiner niedlichen Visage gefressen haben. Die kommen vom Land, auf dem Land gibt es Ratten, Kellerschaben und Nager, die werden mit Gift bekämpft und so weiter und so weiter ... Er beschwatzt sie und sie tun, was sie können. Jede steuert auf ihre Weise etwas bei, hoch erfreut, dass sie dem kleinen Racker etwas Gutes tun können. Der will schließlich seiner Mutter eine Freude machen, indem er sie von der Rattenplage in ihrem Keller befreit. Zum Dank lässt sich Henry von allen an den Busen drücken, ob es ihm gefällt oder nicht.


Kürbissuppe kocht Henry für sein Leben gern 



Als der Herbst naht und die ersten fetten Muskatkürbisse von den Marktständen rollen, ist seine Zeit gekommen. In die Suppe, die er seiner Mutter am Abend vorsetzen will, gibt er weniger Liebe als ein Röllchen aufgelöster Schlaftabletten. Den leicht wattigen Geruch, den der Suppenkessel jetzt ausdünste, übertönt er mit einer Hand voll Rosenpaprika. Mutter Elsa kostet, wie immer angetrunken und
lallend, aber noch bei sich. Ihr Gesicht hellt sich auf: "Teufel, ist die scharf. Aber guuut!" Sie löffelt den Teller in einer Affengeschwindigkeit aus, die Henry schwindelig macht und verlangt nach mehr. Henry ist entzückt. Das erste Lob, das er von ihr hören soll - also hat das Schlafmittel tatsächlich gewirkt, es macht Leute entspannter. 

Als die Mutter nach oben strebt, kann sie nur noch kriechen, was Henry auf den Alkohol schiebt. Auf der steilen Treppe rappelt sie sich noch mal hoch und sieht sich um - "Bist doch gar kein so übler Junge", brummt sie noch, bevor sie das Gleichgewicht verliert und die erklommenen Stufen wieder hinab poltert. Unten angekommen, sieht ihr Körper merkwürdig verrenkt aus. Henry geht zu Bett und schläft besonders tief, da er solches Benehmen von seiner Mutter gewohnt ist. Als sie am Morgen immer noch an derselben Stelle liegt, ruft er die Nachbarn und die wiederum Polizei und die den Notarzt. Tödlicher Unfall in der Getreidegasse, steht am nächsten Tag in der Zeitung.


Henry kommt bei Kritiker Gaston nicht gut an .. das hat Folgen ..



Der mittlerweile als Kleinwüchsiger anerkannte Henry kommt in ein Heim. Das Essen dort ist äußerst mäßig. Mit 14 verlässt er die Schule und geht in die Kochlehre, mit 18 ist er der jüngste Küchenmeister des Landes. In seiner ersten großen Anstellung auf einem Luxusdampfer erhält er bei Maitre Antoine den letzten Schliff. Dann kocht er in Frankreichs besten Häusern. Als er mit 25 nach Hause kommt, reißen sich die Restaurants um ihn. Die Gastrokritiker sitzen sich bei ihm die Hintern platt und hochdekoriert mit Sternen hat Henry mit 30 seinen Kochzenit erreicht. 

Eines Herbsttages kocht er wieder Kürbissuppe und würzt sie mit einem guten Schöpflöffel Ochsenblut. Eine Variante, die er bislang noch nie verwendete, ihm war danach. Als am Abend der gefürchtete Gaston Schopf, Restauranttester der wichtigsten Gourmetzeitschrift des Landes - ein zynisch dreinblickender Zeitgenosse mit einem Hang zu goldenen Krawattennadeln - die Szene betritt, serviert Henry ihm sein Kürbissuppen-Spezial in Erwartung einer besonderen Anerkennung. Dass der Gast nach den ersten Löffeln betreten reagiert und den Teller von sich schiebt, bekommt Henry nicht mit. Er hat am heißen Herd alle Hände voll zu tun.

Tage später liest er in der wichtigsten Wochenzeitung der Republik eine polemische Glosse über Kürbissuppe im Allgemeinen und die von Henry im Besonderen, und eine Karikatur vergleicht den hochdekorierten, aber kleinwüchsigen Küchenmeister mit Rumpelstilzchen. Henry rastet aus. Innerlich tobend und allein in seiner Küche lässt er eine saftige Lammkeule bis zur Unkenntlichkeit anbrennen und demoliert damit gleichzeitig seine beste gusseiserne Kasserolle. Ein Missgeschick von solchen Ausmaßen kann Henry sich selbst nicht verzeihen. Von Töpfen, Herden und Messern haushoch umzingelt, gelobt der nicht über 1,43 Meter hinaus gewachsene Henry Rache an allen, die ihm auf den Scheitel spucken. Das ist der Beginn einer ganz neuen Laufbahn. Gastronomie-Kritiker sollen ihm dabei das Futter bieten. 


Gaston löffelt Henrys Leckerchen


Fast wöchentlich lädt er den verhassten Gaston Schopf zum Speisen ein, kostenlos versteht sich, um ihn für die ganz offensichtlich verpatzte Kürbissuppe zu entschädigen. Für ihn kreiert er die originellsten Raffinessen, die bizarrsten Genüsse. Aus dem Hinterhalt seiner Küchenhöhle beobachtet er mit finsterem Blick, wie Schopf mampft und schmatzt. Zunächst verlegen-konsterniert, dann reuig fragt der Kritiker den in devoter Andacht vor ihm stehenden Henry, ob er ihm seinen Verriss vergeben habe. Henry zeigt sich großzügig. Er möge nur recht oft bei ihm speisen, das sei ihm Abbitte genug. 

In den nächsten Monaten scheint es aber bei unserem Kritiker nicht zum Besten zu stehen, immer öfter muss er seine Abende bei Henry wegen Unwohlseins absagen. Erscheint er doch, kann er nur wenig zu sich nehmen, Schonkost, Petitessen, gedünstetes Taubenfleisch, dünne Hühnersuppen, ein Magenleiden sei es. Henry bedauert sehr und tut sein Bestes, um dem Kritiker, der nun so etwas wie ein Freund geworden sei, mit federleichten Genüssen Appetit zu machen. Aber der Gast wird dünner und fahler, bis er schließlich gar nicht mehr kommt und Henry in der Wochenzeitung einen Nachruf liest - just an der gleichen Stelle, an der Gastons Gourmetkolumne zu strafen oder zu loben pflegte. An diesem Tag nimmt sich Henry frei und hängt ein Schild vor die Tür: "Wegen Trauerfalls geschlossen." 


Die Welt ist voller Gastrokritiker



Henry fühlt sich von ihnen umzingelt und macht es sich zur heiligen Aufgabe, sie alle elegant abzuservieren - zuerst die wichtigen, auf deren Wort die Welt hört, dann die Dummschwätzer, die Ignoranten und Möchtegern-Federfüchse. Sie sollen keinen Schaden mehr anrichten können, eine durchaus löbliche Aufgabe. Henry hat sein Lebensziel gefunden. Es ist auch ein Stückchen Arbeit dabei, nicht jeder lässt sich so leicht aus dem Leben schaffen wie Gaston, der erste, dem Henrys Küche nicht bekam. Aber Henry ist strebsam und zielorientiert und kommt mit Ehrgeiz und Beharrlichkeit gut voran. Da er nun regelmäßig seinen Herd-Schauplatz wechselt, sind auch Nummer 2, 3 und 4 innerhalb eines halben Jahres sicher und verdachtsfrei unter die Erde gebracht. Auch 5 und 6 setzen Henry wenig Widerstand entgegen. Henry arbeitet sauber und gewissenhaft. Seine Kochschürze bleibt rein.

An einem viel versprechenden Maitag tritt Henry einen neuen Dienst in einem Nobelrestaurant von tadelloser Reputation an. Hier dinieren nur die Spitzen der Gesellschaft. Der Gipfelpunkt in seiner Karriere. Darüber liegt nur noch der Olymp. Henry kann stolz auf sich sein. Er kommandiert ein Heer an Entremetiers, Sous-chefs und Kaltmamsells und schreitet durch sein Küchenreich wie ein Gott.


Kürbis für Kritiker Marcel Krake & Gattin Emma - oder was hat Alfons dabei zu schaffen?



Beim Auftauchen des Gastro-Kritikers Nummer 7, Marcel Krake, erkennt Henry sofort, dass der Mann ein Problem darstellen könnte. Ein vierschrötiger, massiger Typ von bester Gesundheit, stark wie ein Stier, muskulös und sportlich. Und es gibt eine weitere Komplikation: Stets wird Krake von seiner Frau begleitet, einem Nippesfigürchen, das er vergöttert. Sie verspeisen das gleiche Menü, da ist nichts zu machen. Die Gerichte, die Henry auf Silbertellern Kritiker Krake vorsetzt, müssen säuberlich getrennt werden von dem, was Gattin Emma zu sich nimmt, zumal Henry angesichts der Ochsengesundheit des Kritikers die Behandlungsdosis verdoppeln musste. Es ist nur eine Frage der Logistik. Und der Zeit. Bereits nach ein paar Besuchen zeigen sich bei Krake die ersten gesundheitlichen Beeinträchtigungen, besorgt beäugt von Emma, mit guten Genesungswünschen bedacht von Henry.

Just an dem Tag, an dem das Kritiker-Paar erneut erwartet wird, tritt Küchenjunge Alfons in Henrys Dienste. Der Gourmetkoch hält große Stücke auf den Kleinen, den er auf dem Markt aufgelesen hat, wo Alfons sich als Marktschreier für seinen Vater, einen Kohlbauern, betätigte. Henry grübelt lange über der Menüfolge und entschließt sich für ein karamellisiertes Seetang-Jakobsmuschel-Ragout in Safransenf, in Champagner pochierte Austern und gesottene Kalbsbäckchen mit Veilchen. Dazwischen Oktopus-Kaviar in hellgrünem Currykürbis. Lange hat Henry keinen Kürbis mehr bereitet. Kürbis ist sein Schicksalsgemüse. Zeit für das Finale. Für Gattin Emma gibt es Spanferkelnüsschen im Kokos-Fenchelmantel, sie verabscheut Kürbis. Das Rezept ist klar. Dreifache Dosis für Krake. 


Das letzte Abendmahl des Kritikers?



Doch just an diesem Tag begehrt Emma überraschend den Kürbis zu kosten. Eine Laune. Wie Frauen nun mal sind. Einmal müsse sie ja ihre Kürbis-Abneigung überwinden, nicht wahr, lieber Henry? Ihr glockenhelles Stimmchen klirrt in seinem Ohr. Henry schluckt. Eine Komplikation, der er sich aber gewachsen glaubt. In der Küche ermahnt er Alfons, den Neuen, nur ja nicht die Teller zu verwechseln, Emmas Teller schmückt ein Veilchen, Marcels Portion eine Krumbeere. Der Neue ist aufgeregt und hochrot, natürlich bringt er es durcheinander, traut sich aber nichts zu sagen. Gibt aber nicht viel darauf, hält es für eine Marotte seines Chefs und geht achselzuckend in die brodelnde Küche zurück. 

Henry serviert. Besondere Stammgäste bedient Henry selbst, Ja, ja, das gehört zu seinem exquisiten Service. Emma kostet, lobt den Kürbis und weil er ihr so ausserordentlich schmeckt, leert sie beinahe den ganzen Teller, während der Gatte so gut wie nichts zu sich nimmt. Die typische Note fehle ihm heute, die Kulmination des Wohlgeschmacks, die er hier zu erhalten gewohnt sei, beklagt er sich bei Henry. Dieser grübelt, was er falsch gemacht haben könnte, aber nicht lange, denn kurz nach dem Servieren des Desserts - Brombeergelee mit geeisten Pistazien an Vogelbeertarantella - sinkt Emma zu Boden, nicht ohne das Tischtuch mit sich zu ziehen. Als man sie von den Gläsern, Tellern und Schälchen befreit, wird augenscheinlich, dass sie tot ist. Der Gatte tobt, das Personal rennt panisch durcheinander, die entgeisterten Gäste starren auf die Entseelte und Henry rettet sich in seinen Herd, wo er erst einmal den nichts ahnenden Küchenjungen ohrfeigt.


Ein erfülltes Leben - Henry macht Karriere nach der Karriere ..



Die üppige Portion Gift ist in Emmas Körper leicht nachzuweisen, Henry gesteht diesen, und weil er ohnehin nichts mehr zu verlieren hat, auch alle anderen Morde. In der Gefängnisküche arbeitet er zunächst als Tellerwäscher, dann als Saucier, schließlich als Maitre, und noch nie war die Gefangenenkost so schmackhaft wie zu Henrys Zeiten. Da er sich mit seinen Mitgefangenen stets gut steht, bleibt es nicht aus, dass man ihm den einen oder anderen Gefallen erweist, ihm das eine andere nützliche Utensil organisiert und zusteckt. Henry hat für alles Verwendung. 

Da Henry mit der Zeit nur noch die oberste Garde der Gefängnisleitung und der Sicherheitsleute zu bekochen hat, und seine Abneigung gegen alle, die ihm auf den Kopf spucken können, frisch ist wie eh und je, kommt es bald wie es kommen musste und ...

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Wer nachkochen will, erhält von mir gerne das Rezept für Henrys Kürbissuppe - allerdings ohne die eher ungesunden Beigaben.


Sigrid Jo Gruner * jogruner@online.de * 02641-384287 * Rechte vorbehalten


Bildnachweise:
alle Stocksnap.io

Kochtopf: Pawel Kadysz
Kochtöpfe auf Herd: Timur Saglambilek
Cafe-Sitze: Daria Nepriakhina
Kürbis: Jocelyn Maloney

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Sigrid Jo Gruner schreibt als MissWord! Content, Magazin, Pressetext, Publikation, als Ghostwriterin Reden, Artikel und Bücher. In Strategieworkshops entwickeln Unternehmen und MissWord! gemeinsam stimmige Positionierungen, Kernaussagen und Imagetexte.



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