Mikrostory. Die Befreiung
Ein Mann
schreckt auf seinem Bett hoch und erkennt, dass er über Nacht in einen Käfer
verwandelt worden ist. Von wem? Warum? Darüber denkt er nicht lange nach,
sondern stellt sich auf die geänderten Verhältnisse ein. Natürlich fällt ihm sofort
die Verwandtschaft zu Kafkas Gregor Samsa auf. Er hält es aber für unwahrscheinlich,
dass dabei ein Zusammenhang besteht. Kafka hat er das letzte Mal vor 27 Jahren als
Pennäler gelesen. Er glaubt nicht, dass dies einen besonders starken Eindruck
auf ihn hinterlassen hat.
Dennoch ist er ein wenig besorgt. Wie geht’s jetzt weiter?
Er lernt erst einmal mit seinen vervielfältigten Beinen klar zukommen, Kriechen
kapiert er schnell, die Schwerkraft hält seinen nun sehr leichten Körper platt
über den weißen Betthügeln, auf denen er hin und her trippelt. Er bleibt umsichtig
und denkt daran, sich Vorräte anzulegen. Immerhin weiß er nicht, wie lange dieser
Zustand anhalten wird. Vielleicht wird er sich nie mehr ändern?
Diese
Vorstellung macht ihm doch ein wenig zu schaffen. Schließlich hat er noch viele
Dinge vor, die er zwar als Mensch bewerkstelligen könnte, als Käfer sich aber abschminken
muss, z.B. wollte er noch einen Baum pflanzen, ein Haus bauen und einen Sohn
zeugen. Letzteres wäre ja wohl noch möglich, aber die Fortpflanzungsstrukturen
der Käfer sind ihm ein wenig unklar. Außerdem fehlt ihm dazu schlechterdings
ein weibliches Pendant. Braucht er unter den gegebenen Umständen jetzt noch ein
Haus? Nicht wirklich. Bliebe der Baum. Wenn er sich in der Größe bescheiden
würde, könnte er es schaffen, einen zierlichen Bonsaisetzling oder ein stämmiges
Grashälmchen in die Erde zu setzen – das ginge ja so là là. Aber wird ihn das befriedigen?
Er hatte immer hohe Ansprüche an sich und seine Leistung. Ein derartiger
Niveauverlust wäre eine schwer zu schluckende Blamage.
Über
diesen Überlegungen vergeht der Vormittag. Als sich die Mittagsstunde mit Magenkneifen
meldet, muss er den Absprung in die neue Welt wagen. Er klammert sich an die
Bettkante und zuckt ungelenk mit seinen Flügelchen. Die Welt unter ihm ist ein
bodenloser Abgrund. Über ihm wölbt sich das All. Felswände dehnen sich
schwindelnd steil nach oben und verlieren sich in einem weiten Himmel; Bergmassive
ragen mit schründigen Oberflächen in den Raum hinein. Unerreichbar. In den Schluchten
lauern Gefahren. Zähnefletschende Ungeheuer, die er, als er noch Mensch war, Katze
oder Hund genannt hat und deren gierige Mäuler nach ihm schnappen oder die
Heimtücke weicher Teppiche, in deren Fülle er ertrinken würde. Auch fürchtet er
sich vor den Patschhänden kleiner rosiger Monster mit blonden Locken, die ihm
die Beine auszureißen nicht zögerten.
Das
Herz in seinem Chitinpanzer wird ihm eng, der Atem knapp, auf sechs schlotternden und sich verknotenden Beinchen schwankt er hin und her. „Schutzengel, wo bist Du?“ Um ihn herum dreht
sich das Zimmer. Schließlich beugt er sich nach vorn, murmelt beschwörend „Alle
guten Geister, steht mir bei!“ und kippt nach unten. Sein Fall ist der eines
ausladenden Mannes auf einem Sprungbrett, der wie ein Sack ins Wasser plumpst. Er
ist ja noch in der Käferlernphase.
Er
knallt auf Holz und bleibt eine Weile betäubt liegen, um seine geknickten
Fühler zu entwirren. „Uff, das war hart“, stöhnt er. Viel Zeit sich zu sammeln
hat er nicht. Vor seinem Kopf bewegt sich eine grellrote Masse bedenklich nahe
auf ihn zu. „Zu Hilf“, schreit er gellend, „Vorsicht.“ Gleich wird sich der filzige
Klumpen über seinem Kopf erheben, um auf ihn niederzufahren und den zuckenden
Käferleib zu zerdrücken. Keuchend wirft er sich seitwärts auf den Rücken und zappelt
hilflos. Hätte er jetzt nur eine weiße Fahne oder ein Megaphon, um in der Weite
des Universums auf sich aufmerksam zu machen!
Etwas in ihm sagt ihm aber, dass
er sich gar nicht mehr anstrengen muss, zerquetscht unter einem roten Ungeheuer
würde er seinen letzten Seufzer tun, das war sein Schicksal. In
Sekundenschnelle rast sein Leben an ihm vorbei. Alles was er geliebt, getan,
versäumt und bereut, seine ganze kleine Existenz. Da fällt ihm auf, dass es gar
nicht so schlecht gelaufen ist, sein Leben. Er hat geliebt, genossen, gearbeitet,
nun ist es wohl vorbei. Er seufzt und ergibt sich in das Unvermeidliche.
Als
Otto K. durch verklebte Lider in das grelle Licht des Morgens blinzelt, findet
er sich auf dem Boden wieder, mit der einen Hand an einen Bettpfosten geklammert,
mit der anderen in den roten Pantoffel seiner Frau verkrallt. Aus der Küche
dringt Emmas energische Stimme: „Steh endlich auf, du Faulpelz, Frühstück!!“
Zum ersten
Mal, seitdem sie sich kannten, entgegen all seiner Gewohnheit, ist Otto
ungehorsam. Er rappelt sich hoch, reckt seine klammen Glieder, bis die Gelenke
knacken wie ein Panzer, der jäh aufbricht und richtet den verknautschten Schlafanzug.
Dann kickt er den roten Damenpantoffel in die Ecke und steigt seelenruhig zurück in seine
Kissenhöhle. Selbst als die Tür aufgerissen wird, regt er sich nicht. Er ist
schon wieder eingeschlummert, die Decke bis zum Kinn gezogen, auf seinen weichen Zügen liegt ein breites Lächeln, sein Atem geht tief und regelmäßig.
Otto K. ist
auf dem Weg zu sich selbst und nichts, aber schon gar nicht seine Emma würde
ihn davon abbringen können.
Rechte vorbehalten: Sigrid Jo Gruner
Sigrid Jo Gruner unterstützt als "MissWord! Manufaktur für das wirksame Wort" Unternehmen, Freiberufler, Berater & Coaches bei Marktpositionierung, Branding und Unternehmenskommunikation.
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Charakteristika: Chuzpe, Empathie und 25-jährige Selbstständigkeit.
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Käfer: Pixabay, amadysasi
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