Freitag, 18. September 2015

Aufgespießt: Die wundersame Vermehrung der Berater

Wagalaweia - Wir leben in einer wunderbaren Zeit!


Nichts kann uns etwas anhaben, nichts wirft uns um, denn - wir haben für schlechterdings alle Verirrungen und Wirrungen in den Schubladen unseres Alltags Lebens- und Glücksberater, Coaches, Trainer, Motivierer, Aufrüttler, Ins-Hinterteil-Treter, Kuschler, Heiler, Wahrsager, Seelenkundige, Schamanen, Hellseher, Positiv-Denker, Streichler, therapeutische Wohltäter und Propheten, Lebensbegleiter, die unser Bestes wollen. Es drängt sich in den Brutkästen. Wo kommen sie plötzlich alle her? Das Klima der Dekade scheint günstig. Verunsicherte Menschen bedürfen der Leitung. Außerdem stehen wir mehr denn je in der Pflicht perfekt zu sein. Doch mit allem, was das moderne Leben täglich neu gebiert sich schnellstmöglich vertraut zu machen, strengt mächtig an und ist dem Felsbrocken des bedauernswerten Sisyphos nicht unähnlich.


Aber damit nicht genug - eine Meta-Ebene hat sich gebildet, auf der sich die Trainer der Trainer, die Supervisor des Supervisors, die Berater der Berater positionieren. Denn - ganz klar, man kennt es aus den sozialen Berufen - wer viel gibt, ist schnell mal ausgelaugt oder am Ende seines Lateins. Das macht ja nix - hier treten die Coaches der Coaches auf den Plan. Und das ist auch gut so. Aber wie soll das weitergehen? Ist die Pyramide nach oben offen? Hat schon ein bisschen ein Geschmäckle wie das Network Marketing oder MLM-Business, wo auf gestaffelten Profitebenen von den jeweils unteren profitiert wird.

"Fragen Sie Frau Irene!"


Damit soll keineswegs die Kaste der Berater geschmäht werden - gehöre ich ja selbst zu einem großen Teil meiner beruflichen Identität dazu. Aber man ahnt, dass diese panisch oder manisch gezeugte Überproduktion fatalerweise in nicht wenigen Einzelfällen auf einem sehr wackeligen Podest von selbst ausgerufenem Expertentum ruht, das mittels Schnellkurs oder Selbsttherapie oder göttlicher Eingebung  (aber auf diese wartet seit Ludwig Thoma die Bayerische Staatsregierung noch heute)  auf die Menschheit losgelassen werden. Das mag in Fällen wie "Wie unterscheide ich zwischen dem guten und schlechten Unkraut in meinem Vorgarten?", "Mit dem Inneren Schweinehund auf Du & Du", "Ein Buch schreiben - ganz talentfrei und dennoch erfolgreich!" oder "Welche 7 Wünsche Sie sich in Ihrem Leben unbedingt erfüllen sollten, damit Sie annähernd glücklich werden" noch angehen. Obwohl manche davon auch ein gewisses Gefahrenpotenzial bergen. Geht es aber an die essenziellen Dinge des Lebens - Sicherheit, Bestätigung, Selbstwert, Entwicklung, Eigenständigkeit, materielle Sicherheit, leibliche und seelische Unversehrtheit, Beziehung - muss die Latte der Qualitätskontrolle so hoch wie nur irgend möglich gelegt werden.

Ansonsten würde ich mir wünschen, die Medien würden zu einer probaten Institution zurückkehren, die noch in den Dekaden vor der Jahrtausendwende schwer beliebt und als vertrauenswürdige Lebenshilfe tausendfach frequentiert war: Die Briefkastenonkels und Tanten in den einschlägigen Rubriken der Ratgeberredaktionen. Man vermutete hinter ihnen Menschen mit gesundem Menschenverstand und Lebensklugheit. Experten waren sie wohl alle nicht. Menschen aus Fleisch und Blut vielleicht auch nicht.

Ach übrigens: Ich für meinen Teil berate Sie gerne zu Fragen der imagestärkenden Positionierung, klicken Sie hier: www.missword.de. - Kein Fake, versprochen!


Foto: Fotolia.com Datei: #55678313 | Urheber: Andrey Kiselev


Sonntag, 13. September 2015

1a-Grenadas - auf www.missword.de: Sonntagsthema: Refugees welcome oder Vom Instinkt ...

1a-Grenadas - auf www.missword.de: Sonntagsthema: Refugees welcome oder Vom Instinkt ...: Was lässt Vögel auf meiner Terrasse anlanden? Mein Balkon zieht Vögel an. Sie fühlen sich offenbar willkommen. Spatzenschwärme, Amsel...

Sonntagsthema: Refugees welcome oder Vom Instinkt der Amseln

Was lässt Vögel auf meiner Terrasse anlanden?


Mein Balkon zieht Vögel an. Sie fühlen sich offenbar willkommen. Spatzenschwärme, Amselfamilien, Blaumeisen-Singles. Mein Freisitz ist hübsch verwildert, Kräuter, Disteln, Efeu, wilder Wein ranken sich ungefragt in Pflanzenpötten und an Regenrinnen hoch. Ein zierliches Bäumchen. Auch in den Plattenritzen sprießt es.

Gerade nimmt eine Meise ihr Sonntagsbad in einer Schale Regenwasser. Sie hat sichtlich viel Freude daran. Wäre sie dazu in der Lage, würde man sie juchzen hören oder lachen sehen. Sie plustert ihr Gefieder, spritzt und plantscht und verursacht einen Aufruhr im flachen Wasser. Jetzt hopst sie auf den bemoosten Dachsturz und nimmt Anlauf zum Abflug. Wohin? Hat eine Blaumeise ein ständiges Zuhause? Wenn ja, zieht sie ab und zu um? Und woher weiß sie, wo es gut für sie ist?

Wo komme ich her, wo will ich hin? 


Eine der essenziellen Fragen der Menschheit - und des einzelnen Individuums, vorausgesetzt es nimmt sich selbst ernst. Die Medienbilder von Menschentrauben an Bahnhöfen, Fremden, die aus ihren Ländern zu uns flüchten - bewusst zu uns - lassen uns den Atem stocken. Die Willkommens-Schilder, die Hiesige ihnen entgegenstrecken, die Versorgungsgaben, der dezidierte Wille zur Aufnahme rühren uns. Auch die Hilfsangebote sind nicht selten von rührender Naivität: Der Teddybär, der Kassetten-Deutschkurs, die Märchenerzählerin, die bereits am Bahnhof die fremden Kinder um sich schart, der kaum getragene Mantel, denn Deutschland kann sehr kalt sein, Yoga-Kurse in Flüchtlingsheimen. Im Moment werden wir von (fast) der ganzen Welt gelobt, gar bewundert, vielleicht für einen kurzen Moment lang auch geliebt. Das tut uns zweifellos gut, denn fühlen wir uns im Innern nicht immer noch wie "Schmuddelkinder"?

Aber kritische Stimme und Beschwerden von Landespolitikern beginnen die schöne Illusion von humanitärer Machbarkeit anzukratzen. Die nicht zu leugnende Realität ist, dass die Hilfsaktionen gerade an Grenzen stoßen. Schlafplätze werden knapp. Wie lange können Helfer ehrenamtlich helfen, bevor ihr eigenes Leben Tribut fordert? - Und die Ahnung wächst, dass es Konflikte geben wird/muss, politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, integrationsimmanente, inner-europäische. Wie lange dauert Integration? Wie viele Anstrengungen muss die Gesellschaft und der Einzelne dafür unternehmen? Wie viel Toleranz lässt die Realität zu? Wie viel ist beiden Seiten zumutbar, wenn Schulkinder Beeinträchtigungen erfahren, weil die neuen, des Deutschen unkundigen Mitschüler berücksichtigt werden müssen? Wenn die Amtsstuben überquellen und Übersetzer fehlen? Wenn der hiesige Steuerbürger sich übervorteilt fühlen könnte? Wenn der Anteilnahme Ernüchterung folgt?

Das unschätzbare Gefühl willkommen zu sein! 


Früher umspannten 7 Dekaden eines Menschen Leben. Eine magische Zahl. Seltsame Koinzidenz, dass die Flüchtlingsströme 70 Jahre nach 1945 eintreffen, als das Land schon einmal 12 Millionen Vertriebene und Fliehende aufnahm. Damals verband sie eine gemeinsame Kultur und Sprache, in der Regel. Fremde waren sie dennoch. Die Ausgangssituation war ungleich härter: Das Land war nach einer überlangen und schwer ertragenen Schreckens- und Leidensperiode in der emotionalen Betäubung und zwanghaften Schuldverdrängung angelangt, die äußeren Bedingungen waren radikal. In einer solchen Ausnahmesituation tätiges Mitgefühl zu üben, war ein Kraftakt.

Die heute zu uns drängen, werden zu Recht mit offenen Armen aufgenommen. Den demographischen Faktor, der dem Land zweifellos zugute kommt, wollen wir hier unbeachtet lassen. Im Moment schieben wir allzu realistische Reflexionen zur Seite und verdrängen noch, dass sich dieses Land mittel- und langfristig verändern wird, ähnlich der Situation, als die deutsche Einheit beide Seiten "kalt erwischte" und nach der verständlichen Freude und überschwänglichen Euphorie auch nüchterne Normalisierung, ja Regression folgten, ja folgen mussten. Realität sieht anders aus als politischer Wille. Aber wollen wir uns verändern? Der Mensch ist auf Bestand des Bestehenden gepolt, Neuerung und Veränderung verursachen ihm zunächst heftiges Bauchgrummeln. 

Der Instinkt der Vögel


Die jetzt zu uns flüchten wissen, dass sie in die Sicherheit und in die Freiheit gehen wollen, sie nehmen in Kauf, dass ihr neuer Wohnort zufällig ist. Daran mag man ermessen, wie viel Mut, Verzweiflung, Selbstschutz oder Sehnsucht oder von allem etwas sie treiben mag, wenn sie das Ungewisse auf sich nehmen. Ihr Schicksal verdient umso mehr unsere Anteilnahme. Den Bürgern in Europa fällt der Standort meist zu, man wird hinein geboren. Meistens erzwingt der Zufall einen Wechsel: beruflich, familiär, gesellschaftlich, der Liebe, des Studiums oder der Karriere wegen. Dass man wegen einer speziellen Neigung zu einer Region oder einer Stadt seine Standortwahl trifft, spielt mit, ist aber von sekundärer Bedeutung, außer bei Zweit-, Wochenend- oder Ferienhäusern.

Glaubt man Erhebungen, so sind Großstädte wie Berlin, Hamburg,  Köln bevorzugte Standorte von Alleinlebenden, Singles. Ein wenig erstaunt, dass behagliche Mittelstädte wie Regensburg oder Osnabrück eine vergleichsweise höhere Quote an Singles aufweisen. Den Single als solchen gibt es allerdings nicht, sondern viele Spezies.* Auch Menschen, die nach einer langjährigen bis jahrzehntelangen Ehe, Lebenspartnerschaft oder Beziehung allein oder verwitwet zurückbleiben und keine Anstalten treffen (wollen oder können), einen neuen Partner zu suchen, werden zu Singles gezählt. Ob sie wollen oder nicht. Single zu sein beruht nicht immer auf einer bewussten Entscheidung.

Fremd sein im eigenen Land


Offenbar kann man sich als Single in Regensburg besonders wohl fühlen. Meist erkennt man nach einem Standortwechsel erst beim Wohnen und Leben, ob es die richtige Entscheidung war, ob das Umfeld stimmig ist. Aber was ist das richtige? Sucht man nicht immer doch vor allem sich selbst? Die Freiheit so zu leben und sich zu entwickeln, wie es seinen Anlagen und inneren Wünschen her bestimmt ist? Auch Städte haben eine organisch-emotionale Qualität und Geschichte, Landstriche ihre gewachsenen Charakteristika. Sie öffnen dem Fremden die Arme oder wenden sich von ihm ab.

Vor einem Wohnortwechsel sollte man vor allem die emotionale Beschaffenheit des neuen Standorts und deren Kompatibilität mit der eigenen Befindlichkeit prüfen oder ein paar Wochen oder Monate Probe wohnen! Häuser und Wohnungen haben ihre eigene Aura, die man beim ersten Schritt über die Schwelle spürt, allerdings nicht immer ernst genug nimmt. Das Gefühl willkommen zu sein und eine Atmosphäre von Offenheit scheinen die Essenz zu sein, die am neuen Standort Fuß fassen lässt. - Amseln wissen das instinktiv.

Stück für Stück zum nächsten Etappenziel


Während des Menschenlebens gibt es viele Gelegenheiten, sich zu fragen, wo man steht und wohin man gelangen möchte. Das können gravierende Einschnitte sein, aber auch das reflektierende Bewusstsein, dass die Zeit rasch verrinnt und man am Ende des Lebens nicht vor dem Erschrecken stehen sollte, sie unbedacht verbraucht zu haben.

Die viel missbrauchte Doktrin "Positives Denken" lenkt den Menschen auf die Imagination der gewünschten Zukunft oder des avisierten Zieles und rät so zu tun, als sei man bereits dort angekommen. Das ist verlockend, denn es enthebt von einer großen Anstrengung. Die Zeit zwischen Ist- und Soll-Zustand wird ausgeblendet. Aber ich kenne niemanden, der auf den Flügeln von Engeln in eine schönere Zukunft getragen wurde. In der Regel muss der Normalsterbliche diesen Weg Stück für Stück durchschreiten und nicht selten auch mühsam erarbeiten.

Es macht also Sinn, sich die den Weg säumenden Stolpersteine und Fallstricke so ehrlich wie möglich zu vergegenwärtigen. Und dies nicht im Sinne von De-Motivation, sondern um sich der einzelnen Etappen bewusst zu werden. Das wappnet & stärkt. Nur so geht's.

Glücklich die Amseln,  die sich von ihrem Instinkt leiten lassen. Willkommen!


Bildmaterial: Fotolia.com 84474297_XS und  66123029 XS

* Zur Situation der Singles in Deutschland demnächst mehr! 

Mittwoch, 9. September 2015

Mittwochssuppe: Abruzzische Kichererbsensuppe mit Maronen

Heute ist Mittwoch, heute gibt's Suppe!

Es herbstelt! Eine wärmende Suppe versüßt die früher einbrechenden Spätsommerabende. Kichererbsen gehören hierzulande zu den weniger konsumierten Hülsenfrüchten. Schade eigentlich! Als Spender von reichlich pflanzlichem Eiweiß sind sie ein idealer Ersatz für Fleisch und Fisch. Sie sättigen ohne zu beschweren und sind kombiniert mit Peperoncino, Oregano und Maronen eine genüssliche Herbstfreude. 

Etwas langwierig. Die Vorbereitungszeit (Einweichen) lässt sich verkürzen, in dem man vorgegarte Maronen und Kichererbsen aus der Dose verwendet. Der regionale Pancetta lässt sich durch andere mild geräucherte und durchwachsene Speckscheiben ersetzen.

Apropos Maronen: Nicht nur geröstet auf dem Weihnachtsmarkt eine Delikatesse. Unserer heutigen Zuppa geben sie die nussig-wohlige Heimeligkeit, die uns bereits auf die kommenden Wintergenüsse einstimmt.


Zuppa di ceci e castagne *


Wir brauchen:

150 g getrocknete Kichererbsen, 2 Stangen Staudensellerie, 1 Möhre, 1 Peperoncino, 2 Lorbeerblätter, Prise Natron, 1 Zwiebel, frischen Oregano, 200 g Maronen, 75 g Pancetta, 4 EL Olivenöl, 200 g eingeweichte und in Brühe und/oder Weißwein weich gedünstete Trockentomaten, Schuss Rotwein, Salz, Pfeffer, Chili, Prise Zitronensaft oder Zitronenabrieb

Und so geht's:

1 Kichererbsen über Nacht in Wasser quellen lassen. Trockentomaten einweichen und hacken - oder passierte Tomaten verwenden.

2 Sellerie, Möhre, Peperoncino vorbereiten und fein würfeln. Mit Lorbeer, Natron, abgetropften Kichererbsen und 1,5 l leichter Gemüsebrühe erhitzen, bei moderater Hitze halb zugedeckt 1 Stunde weich garen. 

3 Esskastanien an der gewölbten Seite einritzen, in kochendem Wasser 20 Minuten garen. Abschrecken, schälen, grob hacken. Ggfs. bereits geschälte Maronen verwenden (dann ca. 125 g).

4 Gehackte Zwiebel, geschnittenen Oregano, gewürfelten Pancetta in 2 EL Öl andünsten. Maronen darin mit garen. Kichererbsen mit der Flüssigkeit und den eingeweichten und gehackten Tomaten zufügen. 

5 Salzen, nachpfeffern, Schuss Rotwein, Spritzer Zitronensaft oder feinen Balsacmico, weitere 15 Minuten sanft schmurgeln lassen. Beim Servieren mit Olivenöl beträufeln.


Rassiges aus dem Land der reinen Quellwasser


In den Abruzzen, in denen sich Adriatisches Meer und Ionisches Meer treffen, fügen sich in den Tälern und Hochebenen des Hintergebirges würzige Schafs- und Ziegenkäse, saftiges Lamm, Kaninchen und Linsen, Safran, teuflisch scharfe Peperoncini, Oliven, wilde Kräuter wie Löwenzahn, Mangold und Rauke, Artischocken, Tomaten, Auberginen, Kapernfrüchte, Esskastanien, Maronenpilze, der würzige cima di rape (Blattgemüse mit kleinen Kohlröschen) zu einer bodenständig-schmackhaften Cucina zusammen. Dicke Bohnen, weiße Bohnen, Linsen, Erbsen, Cannellini sind häufige Gäste in den Kasserollen. Nervenkraft pur! 

Das besonders milde Quellwasser der Abruzzen begünstigt besonders edle Pasta. Zum Fressen gerne: Kaninchen mit Safran, Zicklein in Zitronensauce, Schweinefleisch mit Pilzen, Kapern, Thymian und Salbei, Minz-Nudeln mit Frutti di mare in Weißwein.

200 Kilometer Abruzzen-Küste liefern (noch) volle Netze mit Brassen, Rotbarben, Sardinen, Tinten-, Thun- und Schwertfisch und Garnelen. Muscheln und Austern werden liebevoll aufgezogen. In einem typischen Muscheltopf aus Apulien kuscheln Miesmuscheln, rote und gelbe Paprikaschoten, Knoblauch, Tomaten, Zwiebeln, Basilikum, Fenchelsamen und Kapern mit Weißwein und Olivenöl.

Ein gesegnetes Land also, das in der Antike für das Ende der Welt gehalten wurde. Montepulciano, Trebbiano, apulischer Salice Salentino, Malvasia nera und Primitivo geben den süffigen Urstoff dazu.






Bild: Fotolia.com krmk


* Originalrezept: 
Die neue echte italienische Küche, GU

Freitag, 4. September 2015

Aufgespießt: Ist Fleiß erstrebenswert?



Ja und nein. Fleiß und Disziplin (jaja, auch Gehorsam und Obrigkeitsgläubigkeit) sollen uns Deutschen im Blut bzw. in den Genen liegen wie die Fähigkeit in stickigen Großzelten viel Bier zu konsumieren und volkstümelnde Schlager, etwa von der Schwarzbraunen Haselnuss, abzusingen. Sorry, Herr Brecht, natürlich tümelt das Volk nicht. Aber das Diktum bzgl. Fleiß - stimmt das noch? Und ist das überhaupt opportun?

In der Augustausgabe 2015 rief das Magazin Brandeins zum Faulsein auf: "Macht blau!" In fetten Lettern auf schwimmbadblauem Untergrund. Was sagte ein FDP-Grande vor Jahrzehnten: "Lieber ein faules Genie als ein fleißiger Idiot". Da fallen einem doch sofort ketzerische Fragen ein: Wird man ein Genie durch erhöhte Faulheit? Macht Fleiß gleich dumm? Ist ein Fleißiger deckungsgleich mit einem Idioten und kann ein Idiot überhaupt fleißig sein? Was macht ein Genie zum Genie und wie erkennt man das? Gibt es auch idiotische Genies ... und geniale Idioten? - Hach, ein weites Feld.

Zwischendurch mal ein Mützchen Schlaf nehmen .. auch im Büro

Genialisch oder pragmatisch? Ein Militär aus dem Kaiserreich macht es uns vor

Im Management schafft es nicht der Superfleißige ganz nach oben. In der dünnen Luft der obersten Heeresleitung .. ääh .. Führungsschicht herrschen andere atmosphärische Gesetze. Hans Magnus Enzensberger entdeckte einen Deutschen wieder (Hammerstein oder Der Eigensinn, 2008), der zu Unrecht in Vergessenheit geraten war.* Kurt von Hammerstein-Equord reüssierte im Heer von Kaiser Wilhelm Zwo. Vom hohen Offizier im Generalstab des Generalkommandos (Chapeau!) kam er in der Weimarer Republik zu neuen Ehren als Chef des Truppenamtes der Reichswehr. Für besondere Aktivität oder flammendes Engagement soll er nicht bekannt gewesen sein, dafür setzte er auf interessante strategische Konzepte wie die "hinhaltende Verteidigung". 

Auch seine Personalpolitik war leicht schräg - er beurteilte die Rekruten nach einem simplen 4-Felder-Schema mit den Normen Faul, Dumm, Fleißig, Klug. In seinen Truppen machte er eine Quote von 90% aus, die auf "Dumme und Faule" fielen, was für ihn kein Anlass zur Sorge, eher zur Befriedigung war. Denn diese Art Soldat eignete sich in idealer Weise für Standardaufgaben, die nach Gehorsam und Unterordnung riefen. Weitere 8-9 Prozent sah von Hammerstein im Generalstab positioniert, aber ganz an die Spitze gehörten für ihn die Klugen, die gleichzeitig durch Faulheit beeindruckten. Intelligenz und Phlegma schienen für den Militärstrategen die beste Voraussetzung für coole Nervenstärke und eine Top-Qualifikation für gelassene Entscheidungen zu sein, wenn es "brannte". Die Fleißigen dagegen, die gleichzeitig mit Dummheit gestraft waren, hielt er für eine besonders gefährliche Kaste, nicht nur im Militärwesen. 

Gilt diese allerliebste Doktrin auch für das Management moderner Unternehmen?

Ein Karriere in modernen Konzernen baut auf aktives Handeln. Was treibt Führungsverantwortliche heute an? Ambition und Ehrgeiz, der Wille zum persönlichen Erfolg, Machthunger, der Wunsch etwas zu gestalten, sich zu verwirklichen oder ein Denkmal zu setzen, auch schon mal egomane Selbstbefriedigung und narzisstische Bedürftigkeit. Erwiesen ist aber, dass die fleißigen Erfolgsgetriebenen zwar anfangs schneller starten, eine Fülle an Pluspunkten und persönlichen Erfolgsmomenten sammeln, nach diesem aufreibenden Fleißpensum aber in der Mitte der Strecke zurückfallen, sobald die Machthungrigen, die sich zunächst zurückhielten, mit voller Power zum Run auf die Mount Everest-Spitze ansetzen.

Sie sehen es leidenschaftsloser, cooler und - wenn man so will - auch träger und setzen auf Strategien, die mit Fleiß nicht das Geringste zu tun haben. Aktionismus ist ihnen fremd, ihr Zeitplan ist nicht überfüllt, man sieht sich auch auf dem Golfplatz oder auf dem Kreuzfahrtschiff, bei der Charity Gala, bei Corporierten-Alte-Herren-Treffen und bei den Salzburger Festspielen, wo sie Geschäfte mit leichter Hand anzuschieben scheinen. Sie zeitigen weit bessere Unternehmenskennzahlen als die Fleißigen auf ihrem Marathon schaffen - und darauf kommt es am Ende schließlich an.

Was können heutige Top-Manager daraus ziehen?

Kurt von Hammersteins Vermächtnis für moderne erfolgssuchende Manager könnte heißen: "Mut zu mehr Gelassenheit", "Führende Positionen nicht mit Aktionismus überfüllen", "Klug delegieren und wie auf dem Fußballfeld die Kraft nicht mit Herumhecheln verzetteln, sondern mit dem time-genauen Erkennen der richtigen Situation", "Sich clever vernetzen und wie die Spinne im Netz die Fliege beobachten" ... Das bedeutet allerdings abwarten zu können - und das ist für viele keine gute Option. Faul zu sein zieht in der Regel immer noch gesellschaftliche Ächtung nach sich. Daher hat auch hierzulande der Kreative und Intellektuelle einen schwereren Stand als der Handarbeiter - er gilt als - nun ja - fauler, träger, phlegmatischer, genusssüchtiger, verwöhnter, verspielt wie ein Kätzchen und nasch- und klatschsüchtig wie die Kurtisane des 19. Jahrhunderts ... (Klischees, die sich zäh halten). Gute deutsche Wertarbeit ist in Zeiten der Ideenwirtschaft immer noch von Hand gemacht (auch von Roboterhand).

Mehr dazu in diesem Blogbeitrag.

Sie schütteln missbilligend den Kopf? Aber werden Sabbaticals und Auszeit-Väter nicht immer noch mit scheelen Augen betrachtet? Ist nicht auch die Freizeit ein Spielfeld für entschlossene Aktivität? Wann entspannt der Deutsche eigentlich? Im Urlaub sicherlich auch nicht immer. Entschleunigung ist ein klasse Schlagwort. Aber kann man es sich auch leisten?

Zu Entschleunigung demnächst mehr!


Apropos: Was wurde aus Generaloberst Kurt von Hammerstein? 

Zeitgleich mit Hitlers Machtergreifung 1933 ging er in Pension, aus dessen genüsslicher Trägheit er bei der Generalmobilmachung 1939 jäh gerissen wurde. Aber nicht lange. Nicht nur seine höchste gelassene Arbeitsauffassung und "Faulheit" setzte einer erneuten Karriere Grenzen, sondern auch seine "negative Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus.

Ein fauler, aber kluger Geist.


* findet auch Brandeins-Autor Thomas Range

Literaturtipp: Peter Axt, Michaela Axt-Gadermann: Vom Glück der Faulheit, Herbig. Nicht nur für Manager!!

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