Sonntag, 10. November 2013

Sonntagsthema: "Schreiben kann schließlich jeder" (?)


Ist das tatsächlich so?

Mehr als 2 Mio. totale Analphabeten und ca. 7,5 Mio. funktionale Analphabeten soll es einer Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011 zufolge deutschlandweit geben. Weltweit sollen es 862 Millionen sein, die nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben können. Ein irritierendes Faszinosum. Denn es stellt sich unweigerlich die Frage, wie ein Mensch mit einem solchen Defizit erfüllt durchs Leben gehen, wie eine Alltagswelt bewältigen kann, die immer komplexer und unübersehbarer wird? Wie geht man damit um, von einem Großteil der umgebenden Welt ausgeschlossen zu sein?

Bereits die Fähigkeit die eigene Muttersprache mittels einer Basis-Lese- und Schreibkompetenz hinlänglich zu bedienen, scheint also einer deutlichen Qualifizierung gegenüber einem nicht unbeträchtlichen Teil der Bevölkerung gleichzukommen. Scannen ersetzt Lesen? Schnelles Rezipieren von Keywords den Konsum des Inhalts? Es erstaunt nicht, dass Textqualität von vielen Menschen nicht immer ausreichend und differenziert beurteilt und gewürdigt werden kann.

Immer mehr, billiger, schlechter?

Gleichzeitig erleben Text und Content einen Boom. Massenbedarf wird massenhaft befriedigt. Massenausstoß zieht unweigerlich einen Einbruch bei Qualitätsstandards und Qualitätserwartung nach sich. Textportale, bei denen man für 1,2,3 Cent pro Wort Texte ordern kann, die sich rasch ihrem Verfallsdatum nähern, tragen dazu bei. Für manche Formate und Ansprüche mag dies durchaus taugen. Auch für Profis, die gerade Luft zwischen anspruchsvollen Aufträgen haben, kann es eine Fingerübung bedeuten, für vergleichsweise miserable Bezahlung sich an neuen Themen zu erproben oder unterschiedliche Formate kennenzulernen. Die Ausgangs- und Ertragsbedingungen schwanken je nach  Qualität, Erfahrung und Kompetenz auf der einen Seite - Anspruchsverhalten und Erwartung auf der anderen. Das Gros der Billig-Schreiber sind Amateure, gegen die im Grunde nichts einzuwenden wäre. Wenn sie nicht zu einer Verschlackung des Marktes und der Vernebelung von Qualitätsstandards beitragen würden. Und zu der kühnen Behauptung: "Schreiben kann jeder!" (s.o.)

Dass diese Entwicklung auch zum Tricksen anregt, überrascht nicht - getürkte Texte etwa - kopierte Inhalte, die mehr schlecht als recht umformuliert werden, um dem Google-Verdikt "Duplicate Content" zu entgehen. Dass damit auch Urheberrechte verletzt werden, ficht kaum jemanden an.

Unique Content mit Niveau sieht anders aus.

Im Schnelldurchgang produzierten Texten fehlt vor allem eines: Zeit zu reifen. Für beschämend wenig Geld Texte fließbandmäßig zu produzieren, bedeutet den Blick fest auf die Uhr zu richten bei gleichzeitig drastisch reduziertem Controlling. Und dies muss unweigerlich Qualitätseinbußen nach sich ziehen. Was einen guten Text ausmacht – Zieldefinition, Leseranalyse, Konzept, Strategie, Recherche, Überarbeitung, Reife -  kostet nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Von den soft und hard Skills des Schreibers gar nicht zu reden. - Das sollte beiden Seiten sehr wohl  bewusst sein. 

Billig kann sehr teuer kommen. Denn jede Äußerung eines Unternehmens, in Wort und Schrift, trägt zur Vertrauens- und Imagebildung bei, ob im positiven oder negativen Sinne.

You get what you pay for.




2 Kommentare:

  1. Liebe Sigrid,
    danke für diesen Text. Damit hast du mir aus der Seele gesprochen bzw. geschrieben! Dasselbe gilt nämlich auch das Übersetzen....
    Liebe Grüße aus Norwegen :-)

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  2. Hi Manuela,
    das kann ich mir gut vorstellen! Danke!
    Jo

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